
Ich möchte mich mit Mantren in Trance singen. Ich möchte die Kapuze zuziehen und dem Wind entgegenlaufen, ich möchte auf wogendes Wasser starren und atmen, atmen, atmen; mich sinnlos bewegen und mich in kalten Sand legen unter einem dunkelblauen Herbsthimmel.
Ich möchte heute ein bisschen lebendig sein, nicht begreifen, dass es jederzeit vorbei sein kann: Carpe diem und trotzdem die Steuererklärung, trotzdem die Altersvorsorge (woher auch immer sie kommen soll), trotzdem die Fußleiste schrubben, die Motten töten, ein Backup machen und ein Peeling unter der Dusche.
Nicht zornig werden: trotz Kopfsteinpflaster unterm klappernden Fahrradkorb, trotz Feinstaub und den Verrückten im Park, trotz Verkehrschaos und Zigarettenrauch im Treppenhaus und Müll, der stetig durch die Straße weht; weil La Rentrée auch ein Scam ist und in Wirklichkeit nur immer zu viel von dem, was den Atem stocken lässt und zu wenig Zuversicht mit frisch gespitzten Stiften.

Nicht dramatisch werden, weil ich doch viel lieber jeden Abend schwitzige Kinderfüße massieren würde, ihnen vorsingen, warme Hände auf ihre Körper legen und an ihren Haaren schnuppern, statt Wäsche, Wäsche, Wäsche zu waschen, das Frühstück hinzustellen und To-do-Listen abzuhaken, die niemals enden, nur unermüdlich anspruchsvoller werden.
Nicht dramatisch werden, weil ich heute wieder nicht den Horizont gesehen und auch kein weiches Tier gestreichelt habe; weil ich in keinem Boot gesessen und nicht die blättrige Borke eines alten Baums berührt habe.
Nicht dramatisch werden, weil ich mich heute nicht kaputtgelacht und auch keine flüssige Schokolade gegessen habe; weil ich nicht lange in jemandes Armen lag, sondern nur auf meiner Yogamatte im Studio mit Fußbodenheizung.
Nicht dramatisch werden, wegen Nachrichten, wegen Wehrpflichtdiskussionen, wegen Dunkelheit um halb acht.
Nicht dramatisch werden, wenn doch Zeit das Einzige ist, was wirklich eine Rolle spielt – und es keine Zeit gibt, weil Zeit nur die haben, die sich freikaufen können aus dem ganzen Müssen.

Ich möchte mich mit Mantren in Trance singen. Mich auflösen und jemand sein, der keine Mode braucht und keine Frisur, keine Karriere und keine Errungenschaften, ich möchte alle Sinne ausleben und mich schmutzig machen am Planeten, das Fenster runterkurbeln auf der Allee und »Wie schön das Licht doch heute ist!« rufen.

Ich möchte einem alten Mann zwischen Häuserschluchten hinterhergehen und das Handy wieder zum Telefonieren benutzen; einen Schleichweg nehmen und nicht nur einen Zeitslot buchen; in ein schlechtes Theaterstück gehen und nicht denken, ich hätte mich daran verschwendet.
Stattdessen schreibe ich E-Mails und organisiere Impfungen, hebe Socken auf und lade Formulare hoch. Ich sage: »Leider muss ich den Termin verschieben, wir sind jetzt wieder Knechte der Schule«. Ich bereite mich auf Elternabende vor und möchte lieber eine Kerze anzünden; sitzen wie ein alter Grieche auf einem geflochtenen Stuhl und den Kindern beim Sein zugucken, noch ein bisschen und ein bisschen mehr.

Ich möchte ein kleiner Hippie sein und es für das Selbstverständlichste der Welt halten. Einen Stein in die Jackentasche stecken und ihn für immer dort drin lassen, ein geologisches Geschenk für unterwegs.
Asche zu Asche und Staub zu Staub, Stein zu Stein und retour à la nature. Das kann so ja nicht weitergehen, das ist ja absurd.
