Jauchzet, frohlocket, singt der Chor. Musik kommt aus der Stille, davor war nichts, bloß viel Gerumpel und Gehuste. Keiner trägt mehr eine Mütze, das macht man so in der Kirche glaube ich, das ist wie mit Schultern und Knie bedecken und Handy ausmachen. Fast alle tragen dicke Mäntel und Schals.
Der Raum ist sehr hoch, weiß und rot, Sternrippengewölbe und Bündelpfeiler und hölzerne Treppen. Es gibt Heizungen und es wird nie warm, so viel Musik passt hier hinein und so viel Winterkälte.
Wie mit einem Taumel weggerissen, sagt er. In andere Sphären entführt. Was für Sphären, frage ich. Ich höre manchmal gar nicht richtig zu und schweife ab, sagt er, in Gedanken, aber das hängt auch mit der Musik zusammen.
Ich habe eine Suppe gegessen und eine halbe Frühlingsrolle und dann war es schon fünf Minuten vor, jetzt kann ich nichts sehen. Zum Auftakt wird geklatscht. Die in den hinteren Reihen stehen auf beim Klatschen, ich stehe auch auf und versuche, über den Rand zu gucken.
Ein bisschen kommt es mir vor als wären wir eine brüderliche Kirchengemeinde, es gibt sogar alte Menschen. Alte Menschen gibt es hier sonst eher wenig. Wegen der Gentrifizierung. Unten auf den guten Plätzen sitzen pünktliche ältere Herrschaften und ich stelle mir vor, dass sie jedes Jahr kommen, sie wissen auch schon, wann ein neuer Teil gespielt wird und sie kurz nach einem Taschentuch suchen können. Ein Mann mit dünnem weißen Haar und kariertem Schal sieht zwischendurch auf seine Armbanduhr. Ob er noch etwas vorhat?
Am Ende klatscht er wie ein Kind, es sieht niedlich aus und ein bisschen ineffektiv. Wahrscheinlich klatscht er schon seit 70 Jahren so.
Jauchzet, frohlocket, singt der Chor und ich werde ganz furchtbar traurig und bin kurz nicht sicher, ob ich weinen muss. Meine Augen fühlen sich so an, als hätte jemand Chilischoten in heiße Suppe geworfen. Kurz denke ich darüber nach, warum ich traurig bin, dann ist es mir egal. Es ist auch eigentlich ganz schön.
Ein blondes Mädchen hat eine rote Jacke an. Ich könnte mir auch eine rote Jacke kaufen. Die könnte ich beim Eislaufen tragen oder wenn ich sehnsüchtig über verschneite Endmoränen blicke.
Vor mir sitzt ein Mann mit Sakko und einem roten Halstuch, das mit Glitzerfäden durchwirkt ist. Er hat eine kleine randlose Brille und ich vermute, dass er verwandt mit dem halben Orchester ist, er macht angedeutete Rockkonzertbewegungen und beim Schlussapplaus jubelt er und es hört sich an, als hätte er das vorher geübt, das Jubeln. Sein Begleiter trägt Cordsakko mit Ellenbogenflicken, ganz klassisch. Ich bin mir sicher, dass er einen Adventskranz zuhause hat und gerne Walnüsse isst. Vielleicht spielt er Oboe und hat Freunde, die gerne in Büchern lesen, die ganz dünnes Papier haben.
Vorne hängt der gelbe Herrnhuter Weihnachtsstern und macht alles sehr bürgerlich. Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich mit langen Kaminhölzern Feuer mache in meinem weißen Haus und die Kinder essen Orangen und vom Dachbalken leuchtet der Stern. Es kommt mir seltsam vor, also höre ich auf zu denken und sage ja zur Unordnung innen drin.
Ich verstehe nicht viel Text, obwohl deutsch gesungen wird. Das macht die Tonhöhe. Ich reime mir etwas zusammen. Du reimst dir gerne etwas zusammen, sagt er. Wenn es zu schnell geht.
Jetzt ist es vorbei und vor dem Applaus gibt es noch zwei Takte Atmen und Beschließen.
Der Mann vor mir mit dem Glitzerschal applaudiert jetzt, als wäre er bei einem Auswärtsspiels seines Sohnes.
Frauen mit Blumensträußen kommen und man verbeugt sich und alle sind schwarz-weiß. Der Dirigent trägt Frack und ich bewundere ihn. Ich bin mir sicher, er hat sich den Frack verdient. Ein ehrlich erarbeiteter Frack löst große Ehrfurcht in mir aus. Das macht mich ganz demütig.
Draußen liegt Schnee, er ist dreckig und voller kleiner Steine. Nur auf den Zweigen und unbenutzten Fahrrädern ist er weiß und zentimeterdick.
Ich gehe nach Hause, ein bisschen taumelnd. Gut, dass die Menschen Häuser bauen, die so hoch sind, innen drin. Gut, dass sie singen.
(Erstveröffentlichung im November 2012 auf umwege-im-orbit.tumblr.com)