Kleine Krisen #7 – Kleine Lügen fürs Big Business

Matrosenhunde, Illustration, Kleine Krisen, Frau Flint*a zieht sich einen Pulli über den Kopf

Was tagtäglich unter Verschluss bleibt, damit das LinkedIn-Profil gut aussieht

Also heute zum Beispiel. Was ich tue, ließe ich auf verschiedene Weisen erzählen.


Version #1

Ich habe LinkedIn-Kontakte angenommen, mich mit der KI zu Karriere-Themen ausgetauscht, ich habe meinen Businessplan weitergeschrieben und eine professionell durchkalkulierte Rentabilitätsvorschau erstellt, ich habe ein Tomaten-Omelette gegessen und wichtige To Do-Listen geschrieben, frisch geduscht den Kühlschrank im Coworking-Office geputzt, Memo-Mails verschickt und nebenbei mein Kind betreut, das selbst ausgedachte Geschichten abgetippt hat, pädagogisch sehr wertvoll! 

In meine sehr hübschen pastellfarbenen Leuchtturm-Notizhefte habe ich Notizen hineingeschrieben, ich habe neue Post-Its ans Kanban-Board geklebt, um meine Aufträge bunt sortiert im Blick zu haben und nachher werde ich noch mit dem Fahrrad zum Yoga fahren, hallo Montag, frisch ans Werk.

Matrosenhunde, Illustration, Kleine Krisen, Frau Flint*a schreibt auf sehr viele Zettel
Version #2

Zuallererst bin ich im Schlaf hochgeschreckt, weil mir unvermittelt mehrere Dinge bewusst wurden: Dass ich bei einer Versicherung anrufen soll und dazu telefonieren muss. Dass ich einen Termin für eine kleine OP ausmachen soll und dazu telefonieren muss. Dass ich im letzten Entrümpelungsfieber ein Macbook-Ladekabel entsorgt habe, das doch eigentlich für meine Tochter und ihren ersten Gebraucht-Laptop gedacht war und dann ist mir noch eingefallen, dass ich eine Internet-Kindersicherung einbauen muss, weil die anderen Tweens schon alle durchdrehen wegen TikTok und Insta und rechtsextremen Symbolen im Klassenchat. Währendessen, sozusagen als Parallelgedanke, wurde ich von der Erkenntnis heimgesucht, dass ich natürlich nie ausschließen kann, von einem Starkregensturzbach hinweggerissen oder im Park überfallen zu werden, und dass junge Menschen in Felsspalten fallen und ihre Väter sich dann abseilen, um dort den Boden zu berühren, um mit Staub an den Händen Abschied zu nehmen vom eigenen Kind.

Matrosenhunde, Illustration, Kleine Krisen, Frau Flint*a schläft auf Laptop ein

Ich habe die stündlich aufflammende Wut mehrfach herunterschluckt, die Wut auf alles, vitalisiert durch PMS und tagesaktuelle Nachrichten, ich habe nervös die Spülmaschine eingeräumt und überlegt, dass ich dann wenigstens nicht hochalpin Bergsteigen werde, während mich die Frage verfolgte, wie ich die Dinge im Vorhinein voneinander unterscheiden soll – die, die vermeidbar sind und die, die hinterrücks und plötzlich kommen. 

Matrosenhunde, Illustration, Kleine Krisen, Frau Flint*a föhnt sich die Haare im Handtuch

Ich habe ein Tomaten-Omelette gegessen und zur Ablenkung von Felsspaltengedanken, »New Amsterdam« geguckt, ich habe, während ich frisch geduscht und zornig geföhnt Mails schrieb und mit der KI plauderte, während ich LinkedIn-Anfragen annahm und am Businessplan schrieb, versucht, eine tröstliche Playlist zu erstellen, dann habe ich furchtbar traurige Musik gehört, innerlich geweint und mir meine eigene Beerdigung vorgestellt. Dafür habe ich jetzt immerhin gute Songs und eine grobe Dramaturgie, in der Teelichter eine wesentliche Rolle spielen.

Matrosenhunde, Illustration, Kleine Krisen, Teelicht-Kerzen-Meer

Alles ist echt und genau so passiert und natürlich schneiden wir die Narrative zielgruppengerecht zu und so, dass der Glow glowt, die Stories inspirieren und das Schweitern eine Chance ist. Und gleichzeitig wissen wir doch alle, dass »Berufliche Auszeit« auf LinkedIn entweder Arbeitslosigkeit oder Psychiatrie bedeutet, dass keine*r ernsthaft behaupten kann, niemals Angst vor Felsspalten oder Extremwettern zu haben, dass auch das innere Wetter so unzuverlässig ist wie der Regenradar und diese ganze lächerliche Performance von Erfolg vor allem ein großes Spiel ist. Denn was, wenn deine Morning Pages doch zu gruselig für eine stabilisierende Morning Routine sind und was, wenn dein Hormonhaushalt findet, dass heute mal alle potenziellen Naturkatastrophen als Slideshow vor dem inneren Auge ablaufen, obwohl der Montag dazu nicht gedacht ist, denn der Montag ist doch der gemütliche Office-Tag, der Kick-Start in die Arbeitswoche, das Vereinbarkeitswunder dank paritätischer Kinderbetreuung, am Montag darf nicht über Beerdigungen nachgedacht werden, der Montag ist für Backoffice und Businessvisionen, think big, out of the box, fake it till you make it.

Natürlich ist das dem Montag egal, und wir lügen alle weiter. Es geht uns gut und es läuft, tippitoppi – und bei dir?

Matrosenhunde, Illustration, Kleine Krisen, Frau Flint*a schaut durch ihre eigenen beine
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