Kleine Krisen #6 – Klagemauer

Matrosenhunde, Illustration, Klagemauer, Kleine Krisen

Ich wünsche mir eine Klagemauer.

Dorthin möchte ich gehen und alles loswerden. Ich will keinen Lösungsraum und keine rosarote Brille, keine Toxic Positivity und keine Stehaufmännchen, ich will wüten und schreien und vielleicht etwas anzünden, ich möchte irgendwo dagegen treten und »es reicht« sagen, ich will, dass das möglich ist und erlaubt. 

Es ist nicht so, dass ich die Schönheit nicht sehe, ich sehe den Vater mit der randlosen Brille, der seine Tochter an der Hand führt, ich sehe das Mädchen mit den Locken auf dem Gepäckträger eines Jungen im Gegenlicht des kalten sonnigen Märztages, ich sehe die mutige Entschlossenheit des 6-Jährigen, der auf einer 5-saitigen Gitarre spontan komponierte Songs spielt und dabei fast vom Sofa fällt, ich sehe umgebundene Babys und ergraute Hunde, kleine Vögel in wild blühenden Gebüschen und die Truthähne, die kurz vor dem Wald den Pferden zurufen. Ich sehe, wer sich Mühe gibt und wer Trost, ich sehe all das Durchhalten, die fürsorglichen Momente und dass jemand den Müll aufgehoben hat zwischen den von der Immobiliengesellschaft gepflanzten Tulpen. Ich sehe die lachenden Kinder und die starken Rücken, ich sehe gute Umgangsformen und kleinen Leichtsinn, und trotzdem, trotzdem will ich mich beschweren, ich will das dürfen, ohne Zensur.

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Ich will mich beschweren:

Weil der Hort wieder geschrieben hat und es nur noch 6 Erzieher*innen für 330 Kinder gibt.

Weil ich gestern eine brauntransparente Kakerlake getötet habe in meiner Küche und mich jedes Mal schütteln muss, wenn ich nur daran denke.

Weil ich nachts an der Wiese vorbei radle, die nach Erde und Aufbruch riecht und gleichzeitig immer auch Angst habe, gleich ermordet zu werden.

Weil die beste Therapeutin gestorben ist und jetzt keiner mehr da ist, der mich beruhigt.

Weil die Tabletten auch nicht reichen, gegen das Herzrasen und die aufkommende Panik.

Weil PTBS nichts ist, was man zwischendurch ins Regal zurückstellen kann.

Weil ich nicht jedes Mal Angst um mein Leben haben möchte, wenn ich mich auf dem Rad durch dieses Stadt bewege (warum überhaupt muss ich en passant so viel Angst um mein Leben haben, wegen Autos und Männern, warum?).

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Weil ich eine Freundin hatte, die früher Gürkchen auf kleinen Tellerchen serviert und dabei wilde Geschichten erzählt hat und jetzt nicht mehr zuhört, weder mir noch sich selbst.

Weil ich eine Freundin hatte, die mit mir sehr schnell um klare Gewässer spaziert ist und jetzt nichts mehr weiß von meinem Leben.

Weil ich eine Freundin hatte, die mit mir nackt in den See gesprungen ist und sich jetzt nie mehr von alleine meldet.

Weil ich beim Dinner mit der angereisten Freundin Rant-Verbot habe und mir also nichts mehr einfällt, was ich noch erzählen könnte.

Weil die Schwiegermutter mir zuverlässig das Gefühl vermittelt, eine crackrauchende Teenie-Mom zu sein, die ihre Kinder auf Bahngleisen spielen lässt.

Weil Menschen »wir sind ja jetzt in dem Alter, wo wir uns das leisten können« sagen, ich aber nicht mitgemeint bin.

Weil Menschen Häuser kaufen und trotzdem so tun, als sei das Geld knapp, während ich dem Kind im Eisladen sage, Sahne kostet 1,20, Sahne gibt’s heute leider nicht.

Weil das Kind zusammenbricht, nachdem jemand sein eigens gebasteltes Geburtstagsgeschenk mit voller Absicht in den Müll geworfen hat.

Weil das andere Kind morgens brüllt vor Müdigkeit, aber Schule ist um 8, wir sind hier immer noch in Preußen, hart wie Kruppstahl.

Weil die Playdate-Family heimlich vor den Ferien auf die Sonneninsel fliegt mit dem günstigen Flug, während die anderen Eltern dann doch in Brandenburg bleiben, weil sie so dumm sind, sich an die Regeln zu halten.

Weil Männer mir Autofahrtipps geben.

Weil Ballspielen verboten ist und Rollschuhfahren auch.

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Weil ich organisiere und verhandle und networke und e-maile und denke-berate-schreibe, weil ich mich weiterbilde und freundlich bin und trotzdem keine Aufträge mehr habe.

Weil GenZ-Tiktokerinnen so tun, als hätten sie das Jungsein erfunden.

Weil überhaupt jede Belanglosigkeit als Reel in die Welt entlassen wird, ich will meine Ruhe und Relevanz, aber wer braucht schon Relevanz, wenn es Reichweite gibt.

Weil in der Zeitung eigentlich nur verkappt menschenfeindliche neoliberale Artikel drinstehen, aber die Abonnent*innen immer noch so tun, als seien sie die Guten, die gebildete Bourgeousie isst Bio und seufzt, während sie »jetzt wurde aber genug gestreikt« sagt.

Weil Menschen das mit dem universellen Humanismus nicht begreifen können.

Weil ich nicht gut schlafen kann und dann noch süffisante Kommentare kriege, »also ich schaffe total viel, wenn ich früh aufstehe«.

Weil ich einfach nur noch liegen will, in eine Decke gehüllt in die Sonne blinzeln, Obst essen und Fußreflexzonenmassage, aber natürlich ist das nicht vorgesehen, wer nur liegt, leistet nichts.

Weil 40-jährige Journalistinnen mit Reichweite (TM) Bücher schreiben über Mutterschaft, weil sie auf Panels sitzen und Zuhörerschaft haben und ich alles dazu schon vor 10 Jahren gedacht und gesagt und gefordert habe, nur hatte ich halt keine Bühne. 

Weil andere Eltern sich Nannys und Babysitter und Osteopathen und Lieferdienst und Biokiste und E-Lastenrad leisten können, für die »Vereinbarkeit«.

Weil Menschen meines Alters eine Karriere haben und einen schönen Job mit Impact, aber der Arbeitsmarkt findet, ich hätte zum falschen Zeitpunkt Kinder gekriegt.

Weil ich mein gesamtes Studium durchgejobbt habe, aber leider keine Eltern mit Connections in die Feuilleton-Redaktion hatte. 

Weil ich meinen Job kündigen musste wegen #metoo und keinen hatte, der protestiert.

Weil Menschen »zurück in die Heimat« gehen und ein Haus bauen, während ich leider fast keinen mehr kenne von früher, wegen Tod und Fundamentalismus.

Weil Menschenrechte nicht linksradikal sind.

Weil Frontex und AfD und Fake News und Care-Krise und Klima und Krieg, und weil es eigentlich so schön sein könnte, wenn doch nur alle wollen würden.

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